Es könnte auch ein Gruselhaus, wie das „London Dungeon“ werden, denke ich mir beim Blick auf das Gebäude an der Oberen Silberstraße 37. Es befindet sich an der Spitze einer Kreuzung, die wie ein X angelegt ist. Von der Pohlitzer Straße aus guckt man direkt auf die „Schmuckseite“ des Hauses. Allerdings sieht man auch am bröckelnden, sandsteinbraunen Putz, den durchschimmernden roten Backsteinziegeln, dass seit ewigen Zeiten nichts an dem Haus gemacht wurde. Nahezu täglich fahre ich an dem Grundstück vorbei und sehe einen jungen, braungebrannten Mann in Arbeitskleidung und eine ältere, zierliche Frau, wie sie Steine und Erde ausheben, eine Stützmauer mit Presslufthammer bearbeiten oder mit einem kleinen blauen Bagger hantieren.
Auf dem Grundstück liegen Haufen aus Steinen und Stapel aus Blöcken, sortiert und fein säuberlich von einander getrennt. Teils von Gras überwachsen, teils auf freigeschaufelten Stellen. Die Steine können nicht alle aus dem Grundstück geborgen sein, dafür sind es zu viele und zu unterschiedliche. Es wirkt auf mich wie auf einer archäologischen Grabungsstelle, freigelegte Grundmauern und Brunnen scheinen durch den lehmigen Boden. Es könnten die Überbleibsel von früheren Nachbarhäusern sein. Vielleicht erklärt das auch, weshalb das Haus verzierte, gestaltete Fassaden hat, und eine, die wie eine reine Brandmauer aussieht. Dennoch sind da Fenster eingelassen, die es in einer Brandmauer nicht geben dürfte. Das Haus ist teilunterkellert und besitzt im Erdgeschoss einen Geschäftsbereich und obendrüber befinden sich drei Etagen und ein Dachgeschoss. Im Dach sieht man einige Gauben. Zwei davon passen nicht wirklich zum Rest des Hauses. Die fehlende Symmetrie und die Bauform lassen vermuten, dass sie nachträglich eingebaut worden sein müssen.
Victor Dietel ließ das Wohn- und Geschäftshaus von 1890 bis 1894 erbauen. Er wurde in den Einwohnerbüchern der Stadt sowohl als Rentier, Kaufmann als auch als Appreteur benannt. Appreteur kommt aus dem Französischen und bedeutet so viel wie Ausrüstung, Zurichtung und bezeichnet das Veredeln von Stoffen, Textilien, Garnen und Fasern sowie Papier und Leder. Zu der Zeit ist Greiz ein Textilstandort und bietet Geschäftsleuten sehr viel Potenzial, um schnell an Aufträge zu gelangen.
Der Bagger gab den Hinweis
Zufällig finde ich bei Instagram, über die Hashtagsuche nach Greiz, ein Bild mit dem kleinen blauen Bagger, der auf dem besagten Grundstück an der Oberen Silberstraße steht. Das Profil ist von „artiefex_babel“ und zeigt noch mehr Beiträge zum Grundstück. Auf seiner Website erfahre ich etwas mehr über den jungen Mann. Er ist ein russischer Künstler und Uhrmacher und will sich eine Uhrenmanufaktur aufbauen. Das klingt sehr ambitioniert, denke ich mir. Es gibt Baupläne und animierte 3D Modelle des Hauses, wie es in Zukunft aussehen soll. Zeigen sie eine Rekonstruktion des ursprünglichen Bauvorhabens oder die Vision des Künstlers? Menschen mit Visionen faszinieren mich. Man mag sie für verrückt halten, in den meisten Fällen gehört eine Portion Verrücktheit dazu, denn nicht ohne Grund äußerte Helmut Schmidt den Spruch „Wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen“. Aber ohne Visionen, ohne Vorstellung eines Ziels in der Zukunft, lohnt es sich nicht etwas zu beginnen. Ich halte es da mehr mit Hermann Hesse und seinem Rat: „Man soll das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.“
Ich beschließe Alexander Babel, der sich hinter dem Pseudonym verbirgt, anzuschreiben und um ein Treffen zu bitten. Schon nach kurzer Zeit kommt eine Antwort. Er freue sich sehr über das Interesse, allerdings sei er am Sonntag unterwegs um Material zu organisieren. Wenn ich möchte, könne ich aber schon Fotos machen, ich solle nur aufpassen, dass ich nicht in den Brunnen stürze.
Es ist ein Sonntag im Mai, kurz nach einem warmen Regenschauer, mache ich mich auf den Weg zur Oberen Silberstraße. Ich gehe die Pohlitzer Straße bergabwärts und fixiere das Haus, auf das man zwangsweise guckt, wenn man nach vorn schaut. Es ist keine schöne Ecke, manchmal haben alte Häuser sogar etwas Idyllisches, verwunschenes an sich, aber an der Kreuzung fehlt das in Gänze. Die leerstehenden Nachbarhäuser sind verrußt. Es gibt keine schönen Zäune oder Vorgärten, wie sie in anderen Stadtteilen zu sehen sind. Ab und zu nehme ich die Kamera vor mein Gesicht, gucke durch den Sucher und probiere verschiedene Perspektiven und Ausschnitte. Ich stelle mir vor, was vor 140 Jahren zu sehen gewesen wäre. Alle paar Meter verändert sich der mögliche Ausschnitt, andere Dinge fallen in den Fokus. Die Stadtkirche verschwindet, dafür werden die Strom und Verteilerkästen sichtbarer, die Steine kommen zum Vorschein. Trotz der Erlaubnis das Grundstück zu betreten, habe ich Hemmungen. Die Befürchtung von Motiven abgelenkt zu sein und dabei einen Fehltritt zu machen ist zu groß.
Das erste Treffen
Am Tag darauf treffe ich mich mit Herrn Babel auf dem Grundstück. Er entschuldigt sich, dass er sich noch nicht schick machen konnte. Wir gehen von Lagerplatz zu Lagerplatz und er erklärt mir, welche Steine woher kommen und wofür sie gedacht sind. Er zeigt mir die Grundmauern und bestätigt mir, dass die tatsächlich von zwei abgerissenen Häuser stammen. Bei der Arbeit, so sagt er, lernt er sehr viel über die Gesetze und Vorschriften, die mit dem Bauvorhaben zu tun haben. Diese können sich von Bundesland zu Bundesland und von Kommune zu Kommune erheblich verändern. Es sei gar nicht so einfach herauszufinden, von wann bis wann mit welchem Gerät wo gearbeitet werden darf.
Der Besitzer
Alexander Babel wird 1986 in Nowomoskowsk ca. 250km entfernt von Moskau geboren. Seine Mutter ist diplomierte Sprachwissenschaftlerin der Slawistik und sein Vater Musiker.
Sehr zeitig wird seine Begabung erkannt und gefördert. Das russische Schulsystem ist anders als das deutsche. Frühförderung gibt es auch im künstlerischen Bereich. So besucht er sieben Klassen der Musikschule im Fach Klavier und Trompete, vier Klassen der „Kinder-Kunstschule“ mit sehr strengen Aufnahmekriterien. Seine Mühen und Anstrengungen werden im Jahre 2000 mit dem Siegerpreis der Gebietsausstelllung „Meister des neuen Jahrtausends“ prämiert. Als Spätaussiedler gelangt er 2002 mit seiner Mutter und seinem Großvater nach Deutschland und wurde sehr schnell in das deutsche Schulsystem integriert. Schon 2004 erwirbt er in Erfurt den Realschulabschluss und schon drei Jahre später, nach erneutem Realschulabschluss, bestand er 2007 alle Prüfung für das Abitur am Staatlichen Gymnasium „Geschwister Scholl“ in Sondershausen. Im selben Jahr beginnt er mit dem Architekturstudium an der Fachhochschule Frankfurt am Main. Aus dem Studium wird er schon nach einem Semester durch den Grundwehrdienst herausgerissen. Nach dieser Zeit wird ihm klar, dass ihm die Qualität des Studiums und der Umgang mit Ihm nicht zusagt. Es seien kaum Studenten in den Vorlesungen, die Gemeinschaftsarbeiten würden auf ihn abgewälzt werden, so dass er kaum mit der Arbeit hinterher käme. Alexander widmet sich der Uhrmacherkunst, die Feinheit, Ruhe und das präzise Arbeiten liegt ihm mehr. Im Interessenkreis der Sächsischen Uhrmacherkunst in Glashütte fühlt er sich angenommen und erhält viel Input und spürbare Fortschritte. Schon 2009 beginnt er mit der Arbeit an einem Uhrwerk aus Elfenbein und es gelingt ihm die ersten Teile in Handarbeit zu fertigen. Später meldet sich Marco Lang von der Dresdner Uhrenmanufaktur Lang und Heyne und regt eine Elfenbein Uhr „Projekt Alexander Babel“ an. Bei der Eröffnung von Hartding 1903 einem Uhrensalon in Dresden wird sie im Jahr 2012 präsentiert.
Mulmiges Gefühl im Haus
Babel schließt die Haustür auf, ein kalter Windzug kommt uns beim Öffnen der Tür entgegen. Ein modriger Geruch liegt auf dem Wind. Mir fällt es schwer zu atmen. Er zeigt mir die früheren Geschäftsräume im Erdgeschoss, es steht sehr viel Zeug herum, alte Türen, Baumaterial, Holzverblendungen. „Früher war hier mal der ABV“, sagt er. ABV, der oder die Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei der DDR, bezeichnet Polizisten, die auch eine direkte Ansprechstelle der Einwohner sind.
Zuvor sei ein Ladengeschäft für die Textilerzeugnisse darin gewesen. Er zeigt mir alte derbe Jacken, das Futter schon mehrmals grob geflickt, „die wurden zur Dämmung der Rollokästen genutzt“. Wir gehen weiter in Richtung Kellerräume, dort zeigt er mir die Fäkaliengrube. Ein Wanddurchbruch wird durch einen massiven Holzbalken gestützt. Die Fäkaliengrube habe er selbst instandgesetzt, darauf hin sei die Bauaufsicht gekommen und zweifelte die Standsicherheit der Fassade und der Jauchegrube an. Ein Baustopp wurde verhängt und aufgrund eines unvollständigen Bauantrags kurz darauf auch die Nutzungsuntersagung. Mir wird etwas mulmig. Begehen wir gerade eine Straftat? Nein versichert er mir, er muss auch ab und zu durch das Haus gehen und gucken, ob Schäden auftreten oder sich unbefugte darin aufhalten. Wir gehen von Stockwerk zu Stockwerk.
Es wurde nie grundhaft Saniert
Er erzählt, dass er mit seiner Mutter zwei Jahre in diesem Haus lebte. Also von 2018 bis 2020. Ich mag es mir kaum vorstellen. Alexander hat sich eine Werkstatt für filigrane Arbeiten eingerichtet, die er nun nicht mehr nutzt. Die Geräte und Werkzeuge sind eingestaubt. Eine Ordnung ist für mich nur schwer erkennbar. Wir gehen durch die Wohnungen, ich entdecke alte Tapete mit dem Sandmännchen. Aber das ist nicht Unser Sandmännchen. Dieser hier kommt aus dem Westen. Das Dachgeschoss ist fast entkernt, in Säcken sind Putz und kleine Steinchen sortiert, die Böden sind sehr staubig, wir rätseln, weshalb eine Wand versetzt ist. Sie ist nicht fachmännisch bzw. mit bedacht auf die Statik versetzt worden. Auch die nachträglich eingebauten Dachgauben weisen Mängel auf. An dem Haus seien viele Umbauarbeiten durchgeführt worden, über die man schon mit ein wenig Fachwissen nur mit Kopf schütteln kann.
form follows function
Beim Blick auf das Treppenhaus erklärt er mir, dass das mit dem Brandschutz nicht mehr machbar ist. Er sieht nur eine Möglichkeit, wie er den Anforderungen gerecht werden kann: ein kreisrundes Treppenhaus planen. Die Form folgt der Funktion.
Auf die Frage, wie er dazu käme nach Greiz zu ziehen, schmunzelt er und sagt, dass er in ganz Deutschland nach einem Haus gesucht habe und das Gebäude in Greiz das reizvollste gewesen sei. Es hätte nicht einmal eine Schlüsselübergabe gegeben. Mit einer Kopie des vorläufigen Kaufvertrags in der Hand seien Babel und seine Mutter durch das Fenster eingestiegen.
Ein anderer Termin erwartet mich. Nach über vier Stunden muss ich mich von Alexanders freundlichen und offenem Art trennen. Wir bleiben in Kontakt heißt es.
Die Spurensuche
Mich erreicht die Nachricht, dass sich ein ehemaliger Bewohner des Hauses bei Herrn Babel gemeldet habe. Rainer Jedamzik, beschreibt in seiner E-Mail genau, wo er lebte, wo sein Zimmer war und wer noch mit im Haus lebte. Alexander erinnert sich, dass er ein Zeitungsstück fand, auf dem eine Notiz zu lesen war. Es ging um eine Pippi und Gurkensalat, einem Polizisten, der zu Klaus wollte und liebe grüße von Mutti. Die Antwort an Herrn Jedamzik enthält ein Scan dieser Notiz.
Vollkommen perplex antwortet Herr Jedamzik. Die Mail habe eingeschlagen, wie eine Bombe. Ein Treffen wird vereinbart. Ich darf dabei sein und begleite die Beiden auf der Spurensuche.
Rainer Jedamzik ist nach seiner Arbeit als Bergmann bei der Wismut in Rente. Viele Geschichten kommen in ihm hoch. Auf die Frage, wie das früher mit dem Baden war, lacht er und sagt: „Wenn wir baden mussten oder durften, holten wir die Zinkbadewanne von ganz unten nach ganz oben, stellten sie auf zwei Stühle und dann wurde mit Töpfen heißes Wasser eingefüllt. Und der Reihenfolge nach von sauber zu schmutzig, kamen wir nacheinander in den Genuss“. Rainer zeigt Fotos von früher. Kleine Schwarzweißfotos, aus dem Garten oder auch aus dem Haus. Große Nachkolorierte Fotos seiner Vorfahren. Diese seien 1944 aus Ostpreußen nach Deutschland geflüchtet und kamen über Riesa nach Greiz und nach ein paar Zwischenstationen 1947 in das Haus. Ich sehe mich noch ein wenig im Dachgeschoss nach Motiven um, während Rainer und Alexender auf dem Dachboden sind. Plötzlich rumpelt es, mir fällt etwas Putz ins Genick und eine Stimme schreit „Das gibt’s ja wohl nicht! Das ist mein Bett“. Ich begebe mich unters Dach, die Luft ist warm, trocken, stickig und sie steht, genauso, wie uns der Schweiß auf der Stirn.
Es finden sich weitere Spuren, ein eingekratztes Herz am Fensterblech „Manfred und Anika oder Anita 1957 und I.Z.“ steht drauf, eine alte Eisenbahnplatte und noch mehr Zeitungen. Alexanders Mutter bringt uns Gläser und Wasser. Sie liest in russischsprachigen Dokumenten, die Rainer mitbrachte. Aufgrund der Hitze verlassen wir wieder das Gebäude und gehen in den Garten am Hang und zur Baustelle, wo Rainer noch hilfreiche Tipps aus seiner Bergmannstätigkeit gibt.
Wie alt willst du denn werden, um das alles zu schaffen, fragt Rainer. Alexander guckt nur verschmitzt. Babel erzählt von einer Begegnung mit Herrn Obenauf, Stadtplaner der Stadt Greiz, er äußerte die Befürchtung, „na dass sie sich mal mit dem Haus nicht verzetteln…“. Ob er sich verzettelt habe, frage ich darauf. Leicht verschämt und nachdenklich guckt er zu Boden und sagt, es sieht bald so aus. Woran liegt es? Es gibt doch in Greiz Häuser, die noch schlimmer aussehen, erwidere ich. Worauf er antwortet, am Haus liegt’s ja nicht, das Haus braucht keine Zettel. Es sind die Ämter, die das brauchen.
Stefan Schmidt, 31.5.2023
Weiterführende Links
Wohn und Geschäftshaus „Victor Dietel“ auf der Homepage von Alexander Babel
Instagram-Profil von Alexander Babel